Eine kleine Dorfgeschichte

F. Szoncsó 070831


Über den Weiler war die Nacht hereingebrochen. Von den Fremden war nichts mehr zu sehen, seitdem sie hinter den riesigen Flügeltoren des verbliebenen Bauernhausrumpfes verschwunden waren. Die Dorfbewohner, die Zeugen des komischen Treibens geworden waren, munkelten frisch Erdachtes und bliesen es von Waschweib zu Waschweib zu der Sensation auf, die sie zu beobachten glaubten. Licht hatte es in dem alten Gemäuer seit Jahren nicht mehr gegeben, und schon gar nicht die Geräusche des rechtschaffenen Zimmermannshandwerks. Mit einem Mal wurde von vier Uhr früh bis in den Abend hinein fleißig geschafft. Dachziegel zerschellten zu Tausenden im Hof, wurmstichiges Holzwerk mußte neuem Gebälk weichen, das kunstvoll gezapft und genagelt wurde. Jahrezehntealtes Stroh bettete alsbald die im Dorfe verbliebenen Kühe, und der brüchige Putz weigerte sich, den Erschütterungen standzuhalten und gesellte sich zu den moosbewachsenen, schmutzigroten Tonscherben, die einmal Biberschwanzziegel waren.
Der Kampf mit der neuerdings hereinbrechenden Sprachverwirrung bewirkte Kopfschütteln, als das Deutsch eines Zweijährigen dazu herhalten mußte, komplizierte Arbeitsabläufe zu erörtern. Dem alten Haus gab die neue Haube den Anstrich des Neuen, des Aufbruchs in eine neue Zeit. Die dicke Patina des Verfalls durchzog nun eine wohltuende Scharte. Mörtel und Farbe würden das Werk einst krönen.
Die im Dorf hin und her fliegenden Geschichten erklommen einen neuen Höhepunkt an Absurdität. Begriffe wie schwerreiche Schieberbande, Umweltverschmutzer, Tischerlverrücker und Tschechenmafia machten die Runde. Keiner der Einheimischen konnte sich im entferntesten vorstellen, daß das alte Haus schlicht einen Liebhaber, einen Mäzen gefunden hatte. Die verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse rund um den neuen Besitzer sprengten nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch den Horizont der biederen Dorfbewohner. Sie hielten sich für gut, anständig und berechtigt zu urteilen, doch gerade beim Urteil verließen sie den Pfad der Tugend und bauten ihre armseligen Thesen auf karges Wissen und tendenziöse Zeitungsartikel. Der Rädelsführer der Aversion gegen alles Fremde war Heinz Ahorner, ein auf halbem Wege zum Himmel steckengebliebener Hüne, dessen zu klein geratener Kopf winzige Ohren, jedoch eine sehr flache Stirn aufwies. Seine Augen waren unruhig und grau, und seine verzogene Kinnlade war durch einen schweren Sturz noch weiter in Richtung Häßlichkeit abgerutscht. Seine Sprache setzte sich aus abgehackten Halbsätzen zusammen, die mit großer Wucht hervorgestoßen wurden und einen unweigerlich an einen bellenden Hund erinnerten. Ahorner arbeitete bei der Müllabfuhr, und schon deshalb konnte er flächendeckend über seinen Einzugsbereich berichten, in Halbsätzen Halbwahrheiten zu Schauergeschichten zusammenfügend, die sich niemand traute zu hinterfragen. Etwaige Kritiker wären durch laute Halbsatzgeschoße, drohende Gebärden und Schütteln mundtot gemacht worden. Ahorner war die uneingeschränkte Wirtshausautorität und verstand es, die Leute um sich zu scharen und in Gerüchten, aufgebauschten Neuigkeiten und dazwischen gestreuten Witzen zu ertränken. Meist zahlten sie seine Zeche mit, schon um zu vermeiden, daß Ahorner ihren Mist absichtlich stehen ließ. Doch die Herrschaft Ahorners hatte einen ernsthaften Widersacher, den er jedoch kaum kannte.
Der weithin respektierte und bekannte Dorfbürgermeister, ein gewisser Herr Zechmeister, war ein Intellektueller, dessen Interessen sich auf alle Lebensbereiche erstreckten. Unermüdlich sann er darüber nach, wie die Lebensverhältnisse der Dorfbewohner verbessert werden könnten. Zwischen dem darnieder liegenden öffentlichen Verkehr, der gerade noch nicht toten, weil weitgehend kinderlosen Dorfschule, den Vereinen und den Querelen zwischen den Gemeindebediensteten mußte er sich auch um die Müllabfuhr kümmern, über die sich die skurrilsten Beschwerden häuften. Der detaillierte Briefwechsel, erst elektronisch und schließlich eingeschrieben, zeitigte keinerlei Erfolge. Zechmeister, der aus familären Gründen sein Studium der Rechte abbrechen mußte, um den verwaisten elterlichen Betrieb übernehmen zu können, wunderte sich über die Diskrepanz zwischen Briefinhalt und Wirklichkeit. Er begann nachzuforschen und stieß bald auf den Namen Ahorner und den seines Vorgesetzten, des Unternehmers Thörris, der nicht nur die Müllabfuhr, sondern auch einige andere Betriebe sein Eigen nannte. Thörris war selten zu sehen, fast könnte man meinen, er wäre lichtscheu gewesen, doch seine charakteristische, sehr rundliche Silhouette tauchte immer unerwartet dort auf, wo in den Unternehmen etwas ins Stocken geraten war und auf die Rute des Sklaventreibers wartete. Thörris griff stets hart durch. So mancher Arbeitsloser verdankte ihm seine zerbrochene Welt. Thörris versuchte krampfhaft, den Eindruck, den er unweigerlich machte, durch Spenden, Inserate und Auftritte bei Veranstaltungen zu verbessern, aber die Dampfwalze der freien Meinung überrollte ihn und zwang ihn, sich buchstäblich zu verstecken. Thörris hatte mehrere Zünfte monopolisiert und galt als gestopft, wie die Ansässigen den Zustand des Neureichtums trefflich wortmalten. Ahorner war ein guter Mitarbeiter, einer, der kein Hindernis mied. Im Gegenteil. Er suchte geradezu nach Hindernissen, um sie dann auf seine Art aus dem Weg zu räumen. Thörris schätzte diese Qualitäten. Ahorner hatte, was dem guten Thörris fehlte. Körperliche Größe, Stimmgewalt, drahtige Gliedmaßen. Thörris konnte nicht umhin, den ungeschlachten Mitarbeiter zu bewundern, was ihn unweigerlich um jedwede Autorität brachte. Ahorner diktierte alles, was rund um die Müllabfuhr geschah. Thörris sah zu und verfaßte kunstvolle Briefe, die die Beschwerden zum Hirngespinst der Opfer degradierten, zum Rufmord an seinem besten Mitarbeiter. Thörris wagte es nicht, die Beschwerden überhaupt an Ahorner heranzutragen. Der Firmenfrieden hatte Vorrang.
Zechmeisters Mühlen begannen zu arbeiten, er hatte keine Zeit, nein, er wollte sich keine Zeit nehmen, sich länger mit einem eher geringfügigen Mißstand zu beschäftigen. Er träumte von klassischer Musik im Dorf, von einer zweiten Schule, die die behinderten Kinder der Gegend betreuen sollte, vom Umbau des Altersheimes von einer seelenlosen Warteanstalt in ein Zentrum der Begegnung zwischen den Greisen und jenen, die es eben noch nicht waren. Auch die aufgelassene Bahnlinie war ihm ein Dorn im Auge, waren doch die Busse nur magerer Ersatz für die geräumige Bahn, deren Bahnhof inmitten des Dorfes nun ein japanisches Restaurant beherbergte. Wie oft hatte er mit Verkehrslandesräten, Eisenbahnbeamten, Bezirkshauptleuten konferiert, um die Bahnlinie nicht nur wieder zu beleben, sondern sie zu verlängern, um sie für mehr Fahrgäste attraktiver zu gestalten. Die Müllabfuhr stahl ihm wertvolle Zeit.
Seine Gedanken wanden sich der Person Ahorners zu, dessen Name offenbar in direktem Zusammenhang mit den Beschwerden stand. Dieser Unternehmer Thörris, der seine Steuern nur schleppend und auf Raten bezahlte, wußte offenbar nicht, was vorging. Auch mochte er ihn überhaupt nicht, seit er einen Unfall vertuscht hatte, der der Gemeinde einen Behinderten mehr einbrachte. Thörris wies nicht nur jede Verantwortung von sich, er schaffte es zudem, das Opfer wegen einer Formalität zu kündigen.
Ahorner war also der gemeinsame Nenner, den es zu biegen galt. Kurzum lud Zechmeister den Müllarbeiter zu einer Besprechung in das Gemeindeamt. Vorbeugend hatte er sich alles Schriftliche kommen lassen, was einem Bürgermeister zugänglich war. Thörris, seine Firmenverflechtungen, Berichte über den Unfall, und Ahorner mit seinem eher unbeschriebenen Amtsblatt, das außer Bettnässerei und entsetzlichen Schülerbeschreibungen nichts Verwertbares enthielt. Zechmeister begrüßte den wortgewaltigen Ahorner, der ihn sofort duzte: "Grüaß Di Burgamasta, was brauchst denn?" Obwohl es durchaus üblich war, sich zu duzen, hatte Zechmeister ein ungutes Gefühl, das er noch nie im Gespräch verspürte. "Herr Ahorner, ich bin froh, daß Sie kommen konnten. Seit einiger Zeit beißen wir uns an einer dummen Geschichte die Zähne aus. Ich dachte, Sie könnten uns weiterhelfen. Unsere Gemeinde versucht seit Jahren, die Bahnlinie wieder in Gang zu bekommen. Wären Sie daran interessiert, den geplagten Gemeinden unseres Tales als Sonderbeauftragter für regionale Verkehrsangelegenheiten zur Verfügung zu stehen? Ihre Aufgabe wäre es, die zuständigen Politiker von der Wichtigkeit des Projektes zu überzeugen und ihr Büro nicht eher zu verlassen, als sie ihnen Zugeständnisse, am besten schriftlich, machen."
Ahorner war wie vom Donner gerührt. Seine kleinen Augen flogen zwischen denen des Bügermeisters hin und her, plötzlich schwitzte er und fühlte sich schwach, fehl am Platz, überrollt. Er stammelte einige unverständliche Worte, die der Bürgermeister geduldig verstreichen ließ, indem er sie wohlwollend als Bedenkzeit interprätierte. Er hatte den Tiger in der Falle, ein Entrinnen gab es nicht. Ahorner holte sein bestes Hochdeutsch hervor, das er seit seiner Schulzeit beim Lesebuchlesen nicht mehr verwendet hatte: "Herr Bürgermeister, wenn, hm, weil - ich werd es denen schon sagen, die unsere Eisenbahn zugschperrt ham, bis jetzt hab ich nu alles kriegt, was ich wolln hab." Zechmeister versah seinen neuen Schützling mit allem Nötigen an Argumenten, Nachhaltigkeiten und Gemeindevollmachten für den amtlichen Bereich des Bahnverkehrs. Als Thörris davon hörte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er fand es lächerlich, einen Minderbemittelten wie Ahorner auf Politiker zu hetzen. Als er jedoch Ahorners Kündigung entgegennehmen mußte, änderte sich sein Ton. Erst badete er in Selbstmitleid und Firmenexistenzangst, dann drohte er mit nicht näher beschriebenen Konsequenzen. Es half nichts. Ahorner war weg.
Zechmeister verfolgte aus sicherer Entfernung, wie Ahorner Politikerbüro um Politikerbüro unsicher machte und bald erste Fortschritte erzielte. Er erzielte sie, weil er nicht wich vor fadenscheinigen Zukunftsprognosen, Totgeburtsprophezeiungen, Wählergunst und dem neunköpfigen Ungeheuer Straßenbau. Erste Zugeständnisse traten eine gewaltige Lawine los, die die Zager mit sich riß und den grobschlächtigen Mülltonnenschupfer zur regionalen Berühmtheit machten. Die Halbsätze wurden länger, das Deutsch besser, und der unbändige Wille, zu herrschen und zu siegen half aus den Fettnäpfen heraus, in die Ahorner liebend gerne hineintappte, um sie dann flugs in ein gewolltes Manöver umzufärben. Der Bürgermeister werkte im Hintergrund, er hatte in Ahorner ein williges Instrument gefunden, auf dem es virtuos zu spielen galt. Als Ahorner unter lautstarker Beteiligung der Bevölkerung die Eisenbahnbrücke renovierte, deren Reparaturkosten einst der Grund für die Aufgabe der Strecke waren, konnte auch die Eisenbahn sich nicht mehr taub stellen. Sie bot an, einen Nostalgiezug zu senden, der mit mehreren ausgedienten Maschinen die Brücke einer Belastungsprobe unterziehen sollte. Ahorner lehnte ab. Er ließ ausrichten, daß die Eisenbahn entweder mit modernstem Rollmaterial oder gar nicht zu erscheinen hätte. Nach kurzem, ungleichen Kampf und Marsch durch die Eisenbahninstanzen stand Ahorner vor dem Generaldirektor der Eisenbahn. Ahorner holte zum endgültigen Streich aus. Er bot eine Auslastgarantie für den Personenbereich und eine nicht näher definierte Gütertonnage. Letztere interessierte den Direktor in besonderem Maße. Mülltransporte wären vorgesehen, täglich ein ganzer Zug, sicheres Einkommen, es fehlten nur zwei Kilometer Industriegleis zur Verwertungsanlage. Ahorner gewann. Seine Brücke wurde mit dem ersten Personenzug nach 22 Jahren eingeweiht, und weiter oben an der Strecke ebneten Bagger eine Trasse für ein Industriegleis. Thörris lachte nicht mehr. Seine Müllabfuhr wurde zum Zulieferbetrieb für die bahneigenen Müllwagen degradiert, die nunmehr elektrisch ihr stinkendes Geschäft erledigten. Er verlor viele Mitarbeiter an die neue alte Eisenbahn und ärgerte sich jedes Mal, wenn er beim geschlossenen Bahnschranken am eigenen Leibe erfahren mußte, wer den Vorrang hatte. Ahorner hatte für seinen ehemaligen Dienstherrn keinen Ehrenplatz anzubieten. Er duldete ihn, und Thörris was froh, daß seine Firma nicht völlig verschwand.
Zechmeister jedoch lud zu einer regionalen Verkehrsfachtagung ein, deren Organisation er selbst übernehmen mußte. Ahorner war inzwischen als Landtagsabgeordneter nicht mehr in der Lage, sich um Details dieser Art zu kümmern. Die Geschichten im Dorf verloren ihre Lebhaftigkeit, und selbst die Fremden und ihr seltsames Gehabe wurden nicht mehr als Bedrohung, sondern eher als Impuls für Neues gesehen, das es zu entdecken galt. Zechmeister fand sogar den Mut, eine Türkin im Gemeindesekretariat anzustellen. Bei einem Kurzbesuch Ahorners wurde sie Zielscheibe seiner derben Sprüche: "Meine Großmutter hatte auch ein Kopftuch auf, damit man die Schuppen nicht sieht!" Doch die selbstbewußte Antwort der jungen Türkin fegte ihn hinweg: "Meine Großmutter brauchte kein Kopftuch, sie hatte einen Helm!" Jähzorn stieg in Ahorner auf, sekundenlang kämpfte er mit sich selbst. Wortlos ging er hinaus und wurde gerade so nachdenklich, wie es seine geistige Verfassung eben erlaubte. Die Türkin war ein wahrer Segen für das kleine Amt, und Zechmeister kam auf diese Weise sogar an seine klassische Musik, die seine neue Mitarbeiterin mit anderen Dorfbewohnern pflegte. Bald spielten sie öffentlich bei kleineren Anlässen, sogar die biedere Eisenbahn und der Klerus der Umgebung wurden nicht verschont.
Ahorner, für den klassische Musik den Inbegriff der Dekadenz darstellte, machte sich lustig über die spielenden Weiber und verunglimpfte sie, wo er nur konnte. Obwohl er im Dorfe nicht mehr so oft zu sehen war wie früher, ging er nie ungesehen ein und aus. Die Türkin war fasziniert von diesem riesigen Mannsbild mit den überdimensionalen Tatzen. Daß er ihr Kopftuch ins Visier nahm war für sie keine Beleidigung. Sie verspürte einen Drang, ihm die Kopftuchgeschichte zu erklären.
Als Ahorner wieder einmal bei Zechmeister erschien, war die Türkin sofort aufgesprungen und hatte ihm ehrerbietig die Tür geöffnet. Der Hauch einer vorbeihuschenden Gestalt, der scheue Blick tiefer dunkler Augen ließen Ahorner für einen Augenblick innehalten. Kurz blickte er in ihre Augen. Höflich wollte er nicken und sich mit Gewalt von einer gerade noch erlaubten Bemerkung abhalten. Ahorner war abermals ein Gefangener, nur wenige Schritte von dem Ort, wo seine politische Laufbahn begann und er nicht einmal einen deutschen Satz vollständig herausbrachte. Die Türkin schlug die Augen nieder. Ahorner besann sich seiner Mission und tat etwas unsicher die fehlenden Schritte zu Zechmeister. Diesem waren die bewegten Sekunden keineswegs entgangen. Mit dem Geschick eines altbackenen, lebensnahen, jedoch überaus zielbewußten Dorfbürgermeisters überging er die Geschichte und versuchte, Ahorner ein kleines klassisches Festival schmackhaft zu machen. Dieser war doppelt unkonzentriert, einerseits wegen der klassischen Musik, andererseits wegen der türkischen Düfte, die ihm nicht und nicht aus der Nase wollten. Zechmeister schloß die Unterredung mit dem Hinweis, er möge sich wegen eventuellem Programm und anderer Details an die Sekretärin, Fräulein Süreyya Mustafa, wenden. Ahorner hastete in den Landtag, wo er weder klassischer Musik noch seinen angestammten Agenden als Verkehrsbeauftragter viel Aufmerksamkeit schenkte. Vielmehr dachte er an Süreyya. Ahorner war durchaus nicht alleine. Er hatte eine Freundin, die ihrerseits zwei Kinder aufzog. Ahorner hatte keine eigenen Kinder. Auf diesebzügliche Fragen pflegte er ausweichend zu antworten, daß es in seinem Hause genug Kinder gebe, was jedermann als Hinweis auf Familienglück sehen konnte. Dem war aber nicht so. Ganz und gar nicht. Ahorner war diesem Hindernis einfach nicht gewachsen und duldete es mit aufwühlendem innerem Grollen, Gewaltausbrüchen und langen Abwesenheiten. Der Landtag und die Reisen zwischen den politischen Akteuren erfüllten sein Leben. Nach der Unterredung mit Zechmeister harrte auf ihn eine lange Sitzung, die er mit vielen Abschweifungen ins Emotionale und einer überflüssigen Wortmeldung hinter sich brachte. Schließlich klaubte er seine Akten zusammen und sah sich in seinem Büro Telephonnummern vom Bildschirm in das Mobiltelephon tippen. Für Ahorner war es eine Geduldsprobe, den Namen Süreyya richtig zu bekommen.
In der Zwischenzeit erstrahlte der alte Bauernhof in neuem Glanz. Blumen zierten die Fenster. Helle Farben übertünchten das verschwundene allgegenwärtige Grau, und verschiedenfarbige Dachziegel bildeten ein riesiges Ornament, aus dem bei tiefem Sonnenstand die Zahl 2006 herauszulesen war. Die neuen Bewohner bereicherten das Dorfleben, indem sie nicht nur an den traditionellen Festen teilnahmen, sondern auch neue erfanden und stilvoll einreihten. Essen und Trinken wurden von Musik und beliebten Gesellschaftsspielen umrahmt, wozu bisweilen auch Unterhaltungskünstler anreisten. Geschicklichkeit, Phantasie und Schlagfertigkeit waren gefragt. Bei jedem dieser Privatfeste galt es neue Hürden zu überwinden, wodurch die Latte für Neulinge und Wiederkommende gleich hoch lag. An einem klirrend kalten Wintertag luden die ET's, wie die nicht mehr ganz so fremdem Bewohner des Bauernhofes im Dorfe liebevoll hießen, zu einem reich gestalteten Fest. Jeder freute sich auf diesen Anlaß, war doch das Unterhaltungsangebot im Dorfe vor Jahren fast vollständig versiegt, bis Zechmeister und seine geschickte Personalwahl die Talfahrt beendeten. Die Neigungen der Bewohner des Bauernhofes waren ein Glücksfall für Zechmeister, der den alten Mäzen, einen Herrn Lasalle, bald zu seinem engsten Freundeskreis zählen durfte. Der alte Kuhstall des Bauernhofes war zu einem großen Saal umgebaut worden, in dem sich moderne Unterhaltungstechnik unter uralten Gewölben zu einem großartigen Ensemble vereinigte. Ein großes geheiztes Vorzelt beherbergte die eigens angemietete Gastronomie. Der schneebedeckte Hof war verschiedenfarbig beleuchtet, sodaß sich die Stimmung mit der Blickrichtung angenehm abwechselte. Im Saal dominierte ein riesiger Konzertflügel, um den sich die Musiker scharten und eifrig letzte Vorbereitungen trafen. Ahorner war noch nie eingeladen worden, weil Herr Lasalle Vorbehalte aus Müllabfuhrzeiten anmeldete. Mit politischen Argumenten unter Erwähnung nicht näher definierter Fördergelder für Altbausanierungen wurde Lasalle geködert. Dessen Enkel hakte unter dem großen Torbogen stehend die Namen auf der Liste ab, die ihm sein Großvater übergeben hatte. Eine festlich anmutende Prozession kam daher, die Kleidung bunt gemischt aus traditionell bodenständig und teuer modern. Thörris hatte sich entschuldigen lassen. Klassische Musik war ihm zuwider, ebenso wie die ihr Verfallenen. Für ihn war es Dekadenz und vor allem hinausgeschmissenes Geld. Er wußte nicht, daß sein ehemaliger Mitarbeiter und seine Stieftochter unter den Gästen waren. Zechmeister erschien in bescheidenem Ornat, und Ahorners Name wurde als einer der ersten angekreuzt. Sein dunkler Anzug schien neu zu sein, alles, was von Ahorner zu sehen war, schien neu zu sein. Auch sein Gang, an dem er seit Jahren herumschliff, um sich die derben Schritte abzugewöhnen, sein Gesicht, das seit der geheimen Schönheitsoperation etwas gerader wurde, und seine Sprache, die in vielen Übungsstunden seiner Kaderrolle angepaßt wurde. Ganze Sätze wollen eben gelernt sein.
Süreyya war damit beschäftigt, den Musikern ihre Choreographie einzubläuen. Ihr oblag es, einen Gesamteindruck herauszuschinden, der weit über den Rahmen eines Amateurkonzertes in einem renovierten Bauernhaus hinausging. Für sie war Ahorner einer der vielen, die bei Zechmeister ein und aus gingen, und auch einer der vielen, die Bemerkungen aller Art machten, die ihre Herkunft, ihr Kopftuch oder gar ihre beruflichen Fähigkeiten kommentierten. Seine Körpergröße jedoch, seine natürliche Autorität und seine tiefe Stimme jedoch waren es, die einen unauslöschlichen Eindruck hinterließen. Nun aber war sie, wie bei allen Darbietungen klassischer Musik, sehr konzentriert auf ihre Aufgabe. Sie riß die anderen Spieler mit, ihr Ehrgeiz und ihr ewiges "Es geht noch besser!" beflügelte die kleine Truppe, die im Begriffe war, sich in der kleinen Region den besten Namen zu verschaffen. Nach dem Apéritif war die erste Darbietung geplant, eines der herrlichen Quartette von Dvorak mit dem Harmonium als viertes Instrument nebst zweier Violinen und eines Violincellos. Als Harmonium diente ein gutes altes Roland mit entsprechender technischer Ausstaffierung. Der Organist wurde vom nächstgelegenen Stift angeheuert, was dem alten Kapuziner eine mehr als willkommene Abwechslung bot. Süreyya spielte die erste Geige. Nicht nur die Musik, der gesamte Rahmen, die Stimmung waren hinreißend. Selbst die noch an der klassischen Musik Zweifelnden lauschten andächtig und mit verklärten Gesichtern. Als nach dem ersten Satz Beifall einsetzte, ließ sich niemand beirren. Nach dem zweiten Satz herrschte völlige Stille, die nur vom Räuspern der Erkälteten durchbrochen wurde. Als sich die Musiker nach dem vollendeten dritten Satz der Menge zuwandten, war der Applaus eine begeisterter Lohn für die vielen "Es geht noch besser", die die Musiker in den letzten Wochen über sich ergehen lassen mußten, und wollten. Ahorner, der sich nie getraut hatte, Süreyya anzurufen, überlegte fieberhaft, was und wann er Süreyya wie sagen sollte. Je mehr er grübelte, umso konfuser wurde er. Mit gesenktem Haupt und leerem Sektglas fühlte er sich auf einmal einsam in der Menge. Zechmeister war hinzugetreten. Im Hintergrund wurde die Vorspeise aufgetragen. Süreyya lud via Lautsprecher alle Gäste ein, sich ihre Namensschildchen zu suchen und dort umgehend Platz zu nehmen. Zechmeister, selbst überrascht vom hohen Niveau der Darbietung, bat Ahorner zu Tisch, nicht ohne Worte der Anerkennung und des Stolzes fallen zu lassen.
Lasalle hielt noch eine kleine Ansprache, stellte die Honoratioren vor, die Musiker, seine weitläufige Familie und wünschte, was alle schon hatten: den guten Appetit. Süreyya saß neben Zechmeister. Ahorner dankte dem Himmel, den beiden gegenüber sitzen zu dürfen. Zechmeister führte das Wort und sprach höflich mit und zu allen Tischnachbarn. Er sprach von klassischer Musik, von den Musikern, die nur Gutes täten, vom Wein, der zur Musik gehöre, und von den Möglichkeiten, die sich dadurch böten. Ahorner hörte konzentriert zu, er wollte sich keine Blöße geben. Er versuchte, Süreyya nicht zu lange zu fixieren. Sein Blick war ruhelos, wenn er nicht auf sie fiel. Süreyya sah einen verwirrten Mann, der von Musik nichts verstand und von ihrer Kultur noch weniger. Trotzdem beobachtete sie ihn verstohlen, nicht zuletzt deswegen, weil er sie so oft eingehend musterte. Zechmeister wußte nicht, wie er sich da durchschwindeln sollte. Er kannte die beiden gut, wollte aber keine Dramen, weder im Gemeindesekretariat noch im Landtag. Seine Reaktion war charakteristisch. Er entschuldigte sich, stand auf und ging hinaus durch das Vorzelt in die Kälte. Das Essen wäre zu üppig ausgefallen, ihm wäre nicht gut, ließ er verlauten. Die Köche begleiteten ihn mit derben Späßen, aber Zechmeister hörte nicht hin. Er schritt im hartgefrorenen Schnee auf und ab und zählte die Schuhabdrücke, die sich weiter oben zu einer einzigen Spur verengten, die nicht aufhören wollte. Zechmeister wunderte es, daß die Richtung der Spur zur Scheune wies. Die Spur war frisch, jemand war zur Scheune gegangen. Von dort zurückzukehren war ohne Hinterlassung einer zweiten Spur unmöglich. Zechmeister ertappte sich bei der Fährtensuche. Langsam öffnete er die Scheunentüre und lauschte. Es roch nach altem Stroh, ein bißchen nach alten Reifen und altem Plastik. Und nach etwas Fremdem, das Zechmeister nicht zuordnen konnte. Etwas zaghaft, dann lauter versuchte er, sein in der Scheune vermutetes Gegenüber zu einer Äußerung zu bewegen. Die pechschwarze Finsternis antwortete nicht, dafür umso heftiger die Kälte, die langsam, aber beharrlich seine Beine hochkroch. Zechmeister gab auf und kehrte zurück zum Fest. Süreyya unterhielt sich mit ihm unbekannten Festgästen, Ahorner war nicht zu sehen. Zu seiner Überraschung hatte sie ihr Kopftuch abgelegt. Ihre jugendliche Schönheit strahlte in vollem Glanz. Das gütige, eher flache Gesicht trug den Ausdruck eines Menschen, der die anderen schätzt und liebt, der erforscht ohne zu verletzen, der mit seinem Lächeln nur Sympathie erzeugt. Zechmeisters Augen irrten umher. Er versuchte, Ahorner zu finden und vergaß die Spur zur Scheune augenblicklich. Einige wollten mitbekommen haben, daß Ahorner den Saal durch die Hintertüre verließ, nachdem er mit Süreyya gesprochen hatte. Zechmeister folgte seinem Pfad und fand sich wieder in der Kälte, nachdem er zwischen Saal und Hof eine Garage durchquert hatte, deren Tor einen Spalt offen stand. Unweit davon liefen die Spuren im Schnee zusammen, seine beiden, die zur Scheune und eine vierte, die offensichtlich von der Scheune her in den Hof führte. Es war also doch jemand in der Scheune gewesen. Zechmeister war mit einem Schlage voll der Ahnungen. Ahorner und die Person in der Scheune könnten einander getroffen haben. Das Scheunenerlebnis bewog Zechmeister, an ein unfreiweilliges Zusammentreffen zu denken.
Ein Anruf brachte keine Klärung, Ahorner hob nicht ab. Zechmeister war nahe daran, Alarm zu schlagen, als Süreyya neben ihm auftauchte. Sie war auf der Suche nach Ahorner denselben Weg gegangen. Auch sie konnte sich sein Verschwinden nicht erklären und zeigte sich besorgt. Die beiden begannen durch den eisigen Schnee in Richtung Ausgang zu stapfen. Zechmeister schickte Süreyya zurück in das Zelt, zurück in den Saal und begann, auf den beiden Straßen des Dorfes Ahorners Wagen zu suchen, den er auch sofort fand. Er war leer. Die Minuten verstrichen, Ahorner blieb unauffindbar. Ein so großer Lackel, der verschwindet ja nicht so leicht, dachte er und ging fröstelnd zurück ins warme Zelt, um wieder in den Saal zu gelangen. Inzwischen war das Hauptprogramm angelaufen, ein Bach Solostück von Süreyya und schließlich Kammermusik von Haydn und Chopin. Das Verschwinden Ahorners fand eine romantische Erklärung. Er hatte ein Taxi gerufen, hatte zu nächtlicher Stunde, am Lande und im Winter, versucht, Blumen zu besorgen und war dadurch über eine Stunde unterwegs, bis er in der letzten offenen Tankstelle fündig wurde und dem Betreiber gegen ein fürstliches Honorar alles Brauchbare abkaufte, darunter auch Plastikblumen. Am Ende der musikalischen Darbietung stand Ahorner, etwas abgehetzt aber sichtlich glücklich, mit einem ebenso abgehetzten, ohne jeden Geschmack zusammengesetzten Blumenstrauß beim großen Flügel und übergab stolz und gerührt seine nächtliche Beute. Süreyya, erleichtert von der Last der Organisation und der Konzentration als Solistin, begann, den guten Ahorner definitiv als Mann wahrzunehmen. Sie bedankte sich höflich und bemerkte, daß er gar nicht alles mitbekommen hätte. Sogar gewartet hätte man auf ihn, nach ihm gesucht und wäre beunruhigt gewesen, weil sein Wagen seinen Ehrenplatz nicht verlassen hätte. Ahorner ging darauf ein, erzählte von der Blumenstraußfahndung und den Polizeistreifen, denen er nicht als Fahrer in seinem angeheiterten Zustand begegnen wollte. Seine Schilderungen besagten auch, daß er beim Rufen des Taxis verfolgt worden wäre durch eine Gestalt, die ihm nicht gefallen hätte, daß er jeodch all diese Unbill auf sich genommen hätte, um ihr, Süreyya, Freude zu machen. Süreyya war gerührt und wußte darauf nichts mehr zu sagen als: "Ich danke Ihnen von Herzen, noch nie habe ich so tapfer erkämpfte Blumen bekommen."
Ahorner führte Süreyya zurück zu Tisch, um noch ein wenig zu trinken. Süreyya erkundigte sich nach der Gestalt, die Ahorner verfolgt hatte. Dunkel wäre er gewesen, nicht sehr groß, von raschem, flinkem Schritt, wahrscheinlich nicht sehr alt, Absicht unbekannt. Süreyya war wie verwandelt. Sie kramte in ihrer Handtasche und setzte umständlich ihr Kopftuch auf. Sie begann leicht zu zittern, in ihren Augen stand eine unaussprechliche Angst. Ahorner hatte plötzlich ein Nervenbündel vor sich. Auch Zechmeister bemerkte etwas und berief Süreyya unter einem Vorwand an seine Seite. Nun brach es aus der jungen Frau heraus, im Saal wurde es stiller und stiller, während sie schluchzte und in Wortfetzen und Tränenausbrüchen von ihrer Familie in der Türkei erzählte, die sie verfolgte, weil sie die Zwangsheirat, die sie im Alter von zwölf Jahren mit einem ebenso Minderjährigen zu schließen hatte, nicht einhielt. Ahorner, sichtlich bewegt vom Schicksal der jungen Frau, bat um Ruhe im Saal und sagte feierlich: "Von nun an steht Fräulein Süreyya Mustafa unter meinem persönlichen Schutz, und ich werde alles tun, was dazu angetan ist, ihre persönliche Situation zu bereinigen. Außerdem - möchte ich sagen - daß ich Süreyya nicht nur schätzen gelernt habe, sondern auch aus tiefem Herzen verehre."
Zechmeister war also rechtzeitig von Tisch aufgestanden und verschwunden. Ahorner fand wieder zu seinem alten Mut, den des Haudegens zwischen Mülltonnen. Er kümmerte sich fortan in aufrichtiger Zuneigung um Süreyya. Der in der Scheune lauernde junge Mann wurde ein paar Tage später halb erfroren aufgefunden und als ihr jüngster Bruder identifiziert. Seine Aufgabe wäre es gewesen, Süreyya zu ihrer Familie zurückzubringen, um sie der vorherbestimmten Ehe anheimfallen zu lassen. Notfalls mit Gewalt. Da er illegal im Lande weilte, war er schnell in der gut geölten Abschiebemaschine verschwunden. Ahorner organisierte mit viel Aufwand und ein wenig politischem Druck eine ordnungsgemäße Scheidung, die Süreyyas Familie gegen eine Geldsumme akzeptierte. Süreyya wurde in ihrem Heimatland von den Verwandten prompt für tot erklärt, damit die Familienehre unbefleckt bliebe. Der erfolgreichste Sproß der Familie, viersprachig, anerkannte Musikerin, Organisatorin und inzwischen höhere Verwaltungsangestellte, dankte dem wackeren Ahorner mit einer Hingabe, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Und Zechmeister bekam ein Festival, das die Dorfbewohner einhellig als das ihre sahen und sich entsprechend rührig dafür einsetzten.
Die Dorfidylle internationaler Prägung hätte vollkommener nicht sein können, wäre da nicht ein Brocken unverarbeiteter Kultur auf der Strecke geblieben.

Lasalle hatte nach der etwas aufregenden Abendeinladung eine kleine, aber folgenreiche Auseinandersetzung mit Zechmeister. Dem Hausherrn war es ganz und gar nicht recht gewesen, daß Ahorner so aufdringlich das Zepter an sich riß, Blumen und öffentliche Absichtserklärungen darbrachte und sich ohne große Dankesworte aus dem Staube machte. Auch das prompt nachfolgende Gendarmerieaufgebot störte den Frieden des alten Herrn, der den stundenlangen Aufenthalt zwischen seinen erlesenen Sammlerstücken jedweder anderen Tätigkeit vorzog. Lasalle, der sich seiner Stellung im Orte durchaus bewußt war, verlangte hartnäckig eine saubere Trennung zwischen Ahorner verliebt und Ahorner Landtag. Zechmeister fuhr all sein diplomatisches Geschick auf, um sein Festival nicht nur zu retten, sondern auch Lasalle als treibende Kraft nicht zu verlieren. Argumente wogen hin und her, und wieder zog sich Zechmeister unter einem Vorwand zu einer seiner produktiven Denkpausen zurück. Mehrere Ansätze boten sich ihm, keiner jedoch gewann sein Herz. Er ließ Stärken und Schwächen der Beteiligten Revue passieren. Er dachte an den jungen Türken, der verarztet werden mußte wegen seiner Unterkühlung. Seine Gedanken kamen immer wieder auf Süreyya zurück, doch er wollte sie keinesfalls als politisches Werkzeug mißbrauchen, weil derartige Werkzeuge nicht selten dem vorzeitigen Verschleiß anheimfallen. Der harte Kern des Festivals war so klein, so nahe an der kritischen Masse, daß jede Seele gebraucht wurde. Außer Ahorner. Gebraucht wurde nur das Geld, das er aus dem Kulturtopf des Landes gefischt hatte. Seine Anwesenheit jedoch - Zechmeister zögerte. Die Sache mußte hochoffiziell und in aller Öffentlichkeit herzeigbar sein, sie durfte nicht nach Intrige riechen, sie mußte Lasalle bei der Stange halten und selbstverständlich Süreyya. Ahorner mußte also durch Wichtigeres daran gehindert werden, am Festival teilzunehmen. Eine Dienstreise ins Ausland. Terminkollision. Zechmeister war stolz auf sich. Doch seine Mühe war umsonst. Ahorner war auf internationalem Parkett nie unterwegs gewesen, sprach praktisch keine ausländische Sprache und kannte sich auch nirgendwo aus als im guten alten Niederösterreich, soferne eine bestimmte Entfernung zum Waldviertel nicht überschritten wurde.

Obwohl Zechmeister das Thema Müll für erledigt hielt, kamen erneut Gerüchte auf, die schließlich in Form von Beschwerdebriefen auf ihn einpeitschten. Die Anrainer der Müllverwertungsanalage beschwerten sich über Geruchsbelästigung und brachten auch ihre Gesundheit ins Spiel, da sich neuerdings Symptome zeigten, die den hiesigen Ärzten nicht geläufig waren. Atemwegerkrankungen, Asthma und vieles mehr. Wieder war es Ahorner, der um Hilfe gebeten wurde. Auf Gemeindeebene war an ein Weiterkommen nicht zu denken, betroffen war eine ganze Region. Doch Ahorner war überfordert. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich von einem brilliant erdachten Geflecht von Abläufen umgeben, die seinen Horizont sprengten. Ahorner, der die Regionalpolitikerschule im Laufschritt durchmessen hatte, erkannte, daß er Intelligenz verbunden mit Schläue benötigte. Ihm fiel nur Lasalle ein, der im Laufe seines Berufslebens beeindruckende Beweise seiner geistigen Schaffenskraft hinterlassen hatte. Nur widerwillig setzte sich der alte Herr mit Ahorner zusammen, nicht ohne ihn vorher durch seine Sammlungen zu schleppen und stolz zu zeigen, was ein Sammlerherz zu bewegen imstande war. Ahorner hatte nach zwei Durchgängen von Kaffee und Kuchen Gelegenheit, sein Anliegen dem desinteressierten Gegenüber darzulegen. Alles rund um die Müllentsorgung wäre überprüft worden. Auffälligkeiten waren nicht zu bemerken, außer den paar Beschwerden, die mit jedem Male hartnäckiger wurden. Lasalle übersäte seinen Notizblock mit Kästchen und darangemalten Zahlen, Pfeilen und Zeichen. Ahorner sah nur die vielen Fragezeichen und wußte sofort, daß eben nicht alles überprüft worden war. Lasalle ging nicht auf seine Zeichnungen ein. Zur Verwunderung Ahorners kam eine Forderung. Sollte er, Lasalle, das übernehmen sollen, müßten einerseits seine Honorarforderungen erfüllt werden, andererseits stünde ihm ein durchaus erfüllbarer politischer Wunsch offen, der im Falle eines Erfolges einzulösen wäre. Ahorner willigte ein, er war zuversichtlich, einen von Lassalles Verwandten im Staatsdienst unterbringen zu können. Zumindest dachte Ahorner, daß dies Lasalles politischer Wunsch sein würde.

Lasalle begann also, sich für Müllentsorgung zu interessieren und hatte bald eine Vollmacht in der Hand, die ihm Zutritt zu den Anlagen, aber auch zu den Papieren verschaffte. Er tat aber nicht, was die Verantwortlichen dort erwarteten. Er prüfte keine Papiere, keine gespeicherten Daten, keine der bekannten Analysen des "Kuchens", womit die festen Rückstände nach der Verbrennung gemeint waren. Seine Prüfungen waren subtil, sehr subtil. Er wurde Stammgast im naheliegenden Gasthaus und sprach mit den Fahrern, den paar Eisenbahnern, den Anrainern. Er machte keine Notizen und war einfach ein freundlicher Pensionist, der fallweise einen ausgab. Nach den Gasthausbesuchen spazierte er durch die Gegend, begleitetet von einem großen schwarzen Labrador, den er für eine Pendlerfamilie tagsüber versorgte. Nach gar nicht so langer Zeit lieferte er einen teilweise beweisbaren, teilweise hypothetischen Bericht ab, der klare Fronten schuf zwischen Meßbarem und strafrechtlich Relevantem, wofür sich Lasalle als nicht zuständig erklärte. Meßbar waren die Abgase, die Ablagerungen, die Schadstoffbelastungen, die Lasalle aus batteriebetriebenen Sensoren während der Spaziergänge ablas. Meßbar waren auch die Anzahl der Waggons, weniger jedoch ihre tatsächliche Herkunft und schon gar nicht der stinkende Inhalt. Dem Bericht nach stimmte die zugelieferte Müllmenge ganz und gar nicht mit der Anzahl der Waggons überein, was Lasalle auf die einfachste Weise herausfand. Eine Einfahrt eines Müllwagens zählte als volle Ladung, die Daten aus der Wägeeinrichtung wurden nicht aufaddiert. Hier waren es die Fahrer, die Lasalle gegenüber bemerkten, daß die Wagen oft leer das Kontrolltor durchfuhren. Die Grümde dafür schienen vielfältig und reichten von kleinen Reparaturen bis um Jausenholen. Einen werkseigenen Kleinwagen gab es nicht. Die Eisenbahner wiederum klagten über lästigen Verschubbetrieb, weil zwecks Ausnützung der Eisenbahn Waggons in allen möglichen kleinen Bahnhöfen auf Müll warteten. Hier wurde Lasalle hypothetisch und zeigte klar auf, welche Mengen an nicht Erlaubtem an Bord der Waggons gehen könnte. Was ihm und allen anderen jedoch entging, war ein Zufluß von falsch deklarierten Waggons, die in den unbesetzten kleineren Bahnhöfen auftauchten und dort den Müllberg vergiften halfen.

Ahorner reagierte sofort. Einige Wochen später gaben sich alle Sensoren einen Ruck nach unten. Nachdem die Staatsgewalt den illegalen Müllverkehr unterbunden hatte, kehrte Ruhe ein unter Anrainern und Personal. Ahorner vergaß sein politisches Versprechen, Zechmeister betätigte sich weiterhin als Dorfverbesserer und Lasalle widmete sich seinen Sammlungen. Als das Festival nahte und Süreyya sich mehr denn je darum annahm, lud Lasalle zu einem Herbstfest ein, nicht zuletzt um sich persönlich vom Stand der kleinen Musikgruppe zu überzeugen. Sein Anruf bei Anhorner war kurz und bündig. Er erinnerte an das politische Versprechen und bat Ahorner, es einlösen zu wollen. Dieser sprach von den Schwoerigkeiten im öffentlichen Dienst und wollte gar nicht aufhören, sein Dienstherz dem Telephon anzuvertrauen, als Lasalle ihn unterbrach und mit fester Stimme sein Fernbleiben vom Festival forderte. Ahorner war einen Moment stumm. Überraschend freudig teile er dem verduzten Lasalle mit, daß klassische Musik im ein Greuel sei und er mit Freuden fernbliebe. Eine politisch normgerechte Ausrede würde er schon besorgen. Lasalle scherzte wegen Süreyya, die ihm also demnach auch ein Greuel sein müßte. Man lachte und verstand.

Am Gesellschaftsabend bei Lasalle war Süreyya nicht nur zugegen, nicht nur die treibende Kraft und nicht nur die bei weitem Attraktivste. Sie trat förmlich auf, wie auf einer Bühne, sie zelebrierte den Abend auf ihre Weise und genoß sichtlich die Freiheit und Aufmerksamkeit, die ihr ihr Gastland anheimfallen ließ. Die Abwesenheit Ahorners wurde mit Terminkollision begründet. Zechmeister verstand, wollte aber den wahren Zusammenhang herausfinden. Schließlich stand das Festival vor der Türe, und die Subvention des Landes war mehr als lebensnotwendig. Süreyya, der Politik nie geheuer war, vertraute ihm den politischen Wunsch von Lasalle an. Sie vergaß nicht, die klassichen Greuel anzumerken. Zechmeister mußte lachen. Er hatte sich das so kompliziert vorgestellt, und da kommt der kleine Pensionist und regelt die Geschichte im Handumdrehen. Lasalle war offenbar ein Juwel im Dorf, das nicht nur sammelte, sondern auch Absichten durchsetzen konnte.

Süreyyas Beschäftigung im Gemeindesekretariat hatte eine Nebenwirkung, die manche als unangenehm empfanden. Türkische Kultur schlich ins Dorf. Nachdem ein Haus an einen Türken verkauft worden war, der über den Festivalbesuch und Süreyya auf das Dorf aufmerksam wurde, kamen bald weitere Türken dazu und taten, was sie am besten konnten: Handeln, alles tun, was die Ansässigen schon längst nicht mehr taten, und untereinander ihrer Landessprache frönen. Der Horizont der alteingesessenen Dorfbewohner stieß wieder einmal an seine Grenzen, doch vertrauten sie Süreyya. Sie versicherte allen, daß dies korrekte Landsleute wären, die hier ihr Brot verdienten so wie alle anderen auch. Lasalle hatte einen der überaus geschickten Türken angestellt, damit er bei der Restaurierung seiner Sammlerstücke helfe. Süreyyas Schönheit blieb auch den Türken nicht verborgen, auch ihre uneheliche Beziehung zu Ahorner. Sie sah sich den Vorwürfen ihrer Landsleute ausgesetzt, die Spannungen waren fühlbar. Auch Zechmeister wußte davon, teilweise durch Süreyya, teilweise durch sein Einfühlungsvermögen. Auch Lasalle war im Bilde. Sein Restaurator Kemal verurteilte lautstark radebrechend die Abtrünnige. Der alte Herr versuchte die Wogen zu glätten, aber je mehr davon gesprcohen wurde, umso gereizter wurde Kemal. Lasalle geriet zwischen die Fronten, hier Kemal, der unter dem Vorwand unmoralischen Verhaltens einen Widersacher aus dem Weg haben wollte, wie immer der auch heißen möge. Er hieß aber Ahorner, nunmehr Vollblutregionalpolitiker und durchaus derb im Vorgehen, wenn es die Lage erforderte. Die unvermeidlichen Gespräche zwischen Süreyya und Lasalle bedingten auch, daß Ahorner fallweise bei Lasalle auftauchte.

Kemal nutzte eine solche Gelegenheit, Ahorner zu stellen. Selbstverständlich sollte Süreyya alles mitansehen. In dem kleinen Augenblick der Unstabilität beim Verlassen des Wagens sah sich Ahorner zu Boden gestoßen. Kemal plazierte seine Hiebe und Tritte so präzise er konnte. Ahorner kam irgendwie wieder auf die Beine, und der überall fühlbare Schmerz fachte seinen Kampfinstinkt zum Inferno an. Ahorner, noch immer mit der Kraft des Mülltonnenschupfers gesegnet, ergriff den tobenden Türken und schleuderte ihn mit einer einzigen wuchtigen Bewegung von sich. Der Türke fiel rücklings auf die Betonstiege und blieb regungslos liegen. Süreyya stieß einen kurzen Schrei aus. Der kurze Kampf war ihr entgangen. Wagendach und langes Haar nahmen ihr die Sicht während sie ausstieg. Mit dem Blick des klugen Menschen und der unheimlichen Stille nach dem Kampf war ihr sofort klar geworden, daß Kemal tödlich verletzt sein mußte. Ahorners rassistische Haltung, das Schütteln seiner Saufbrüder im Gasthaus, der schwerverletzte und gekündigte Müllabfuhrkollege, die Warnungen ihrer türkischen Landsleute, Lasalles Schachzüge und der Anblick des buchstäblich zerstörten Kemal zerrissen das Herz der jungen Frau. Sie flüchtete. Sie lief. Sie lief, bis die Schuhe an ihren Füßen zerfielen. Sie lief über die riesigen Felder, erreichte den Wald, das niedriggewachsene Dickicht, lief und torkelte weiter bis physische und psychische Erschöpfung sie zu Boden zwangen. Dort lag sie, bis die Hundeführer der Gendarmeriesuchstaffel sie entdeckten. Sie lebte noch, war völlig zerkratzt, hatte Wunden an den Beinen. Ihre Augen waren starr geöffnet. Sie war nicht ansprechbar, ihr Atem war schnell und schwach. Im Bericht wurde der Begriff "irrsinnig" verwendet. In Decken gehüllt, aus dem Dickicht getragen, in die Sonderabteilung des Bezirkskrankenhauses verfrachtet, konnte sie trotz aller medizinischen Kunst nicht wieder zu Kräften kommen und verstarb, während ihre Mutter noch im Flugzeug saß.